Juni 2009

Stille Beobachter (27)

Abfluss auf dem Gelände des Römerkastells „Saalburg” bei Bad Homburg

So rich­tig glück­lich wirkt er ja nicht, die­ser stille Beob­ach­ter, inmit­ten der zahl­rei­chen, von Römer­hand errich­te­ten und spä­ter sorg­fäl­tig restau­rier­ten Bau­werke, die vor bei­nahe zwei Jahr­tau­sen­den das heute „Saal­burg“ genannte Kas­tell wenige Kilo­me­ter nord­west­lich von Bad Hom­burg im Tau­nus aus­mach­ten. Neu geschaf­fen aus dem Mate­rial, das die dama­li­gen Bewoh­ner der Gemäuer um ihn herum erfun­den haben, muss er so eini­ges schlu­cken – oder ist er viel­leicht ent­täuscht dar­über, dass das auf dem gest­ri­gen „Römer­markt im Kas­tell­dorf“ als „Römer­brot“ feil­ge­bo­tene und ebenso schmack­hafte wie runde Back­werk bereits am frü­hen Nach­mit­tag aus­ver­kauft war? Dies wäre nur allzu ver­ständ­lich, ging es uns lust­wan­deln­den Ple­be­jern doch nicht anders.

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Herzlos

Herzlos

Fund­sa­che am Mit­tel­strei­fen der A5 in Rich­tung Süden etwa bei Kilo­me­ter 526

Gestatten, Berthelt!

Gestatten, Berthelt!

Guten Tag, wer­tes Publi­kum, ich heiße Bert­helt. Mit einem Vor­na­men kann ich lei­der nicht die­nen, denn den gab mir mein Erzeu­ger, der Johann Faber aus Nürn­berg, wei­land größ­ter Blei­stift­her­stel­ler des Lan­des, nicht mit, nach­dem er mich vor, na, viel­leicht 90 Jah­ren im Süden Deutsch­lands in die Welt gesetzt hat. Ich bekam damals einen ele­gan­ten Man­tel in kräf­ti­gem Rot um, der zu mei­ner gro­ßen Freude mit sil­ber­far­be­nen Appli­ka­tio­nen ver­ziert wurde – dar­un­ter auch Schlä­gel und Eisen, was meine Bezie­hung zum Berg­bau zeigt –, und los ging’s.

Gestatten, Berthelt!

Auf­merk­sa­men Beob­ach­tern wird es bereits auf­ge­fal­len sein: Ziem­lich am Ende mei­nes Über­zie­hers prangt – einem Rang­ab­zei­chen gleich – „№ 2“, doch Ken­ner mei­nes Metiers wis­sen sehr genau, dass die Num­mer 2 in unse­rer Bran­che eigent­lich die Num­mer 1 ist. Die­sen Sach­ver­halt den Nicht-Fachleuten unter ihnen zu erklä­ren würde aber den Rah­men mei­ner kur­zen Vor­stel­lung spren­gen, und so muss ich lei­der dar­auf verzichten.

Auch wenn mein Auf­tre­ten auf man­che etwas höl­zern wir­ken mag, so kann ich ver­si­chern, dass sich in mei­ner glat­ten, zwei­ge­teil­ten Schale ein recht wei­cher Kern ver­birgt und ich mir nicht zu schade bin, mich für meine ver­ant­wor­tungs­volle Tätig­keit auf­zu­rei­ben. Als man mir damals eine glän­zende Kar­riere ankün­digte, hat man nicht zu viel ver­spro­chen, denn ich bin tat­säch­lich uni­ver­sell ein­setz­bar und mit dem Umgang jed­we­der Infor­ma­tion bes­tens ver­traut, mögen sie aus Zah­len, Buch­sta­ben oder sons­ti­gen Zei­chen bestehen, und in der Hand Kunst­schaf­fen­der ver­mag ich ebenso zu überzeugen.

Gestatten, Berthelt!

Glän­zend sind übri­gens auch die grau­schwar­zen Spu­ren, die mein tra­di­ti­ons­rei­ches Werk auf dem Papier zu hin­ter­las­sen ver­mag und denen weder Sonne noch Was­ser etwas anha­ben kön­nen. Ganz im Kon­trast zu mei­nem auf­fäl­li­gen Äuße­ren mische ich mich nicht in die Belange derer ein, die meine Dienste nut­zen, son­dern halte mich – wie es sich für mei­nen Stand gehört – vor­nehm zurück. Wer mich und mein Kön­nen in Anspruch nimmt, kann sich also ganz auf die die eige­nen kost­ba­ren Gedan­ken konzentrieren.

Ich glaube sagen zu kön­nen, dass ich mich für mein Alter her­vor­ra­gend gehal­ten habe – ich bin nicht aus dem Leim gegan­gen, und so sitzt mein schlich­ter Man­tel auch heute noch wie ange­gos­sen. Apro­pos Man­tel: Die­ses betagte Klei­dungs­stück ist von erstaun­lich hoher Qua­li­tät. Selbst nach den vie­len, zum Teil tur­bu­len­ten Jahr­zehn­ten ist sein Stoff weder ein­ge­ris­sen noch abge­grif­fen, und auch den attrak­ti­ven Auf­dru­cken sieht man die Jahre nicht an, so dass ich bestimmt nach wie vor eine sehr gepflegte Erschei­nung abgebe. Gewan­dun­gen die­ser Güte fin­det man heut­zu­tage recht sel­ten, aber das nur nebenbei.

Gestatten, Berthelt!

Der nahe­lie­gende Ein­druck, bei mei­nem anstren­gen­den Tage­werk würde ich auf Dauer abstump­fen, täuscht sehr, denn falls nötig, bringt mich die­ser komi­sche Kauz, in des­sen merk­wür­di­gem Pot­pourri ich mich hier prä­sen­tie­ren darf, wie­der schnell in Form. Doch wie es eine Lebens­auf­gabe so an sich hat, zehrt auch die meine an mir, so dass ich irgend­wann fast gänz­lich ver­schwun­den sein werde. Aber wer weiß – mög­li­cher­weise hat ja einer der geschätz­ten Anwe­sen­den mit­ge­schrie­ben, was ich hier erzählt habe, und bewahrt es damit für die Nachwelt.

Ich danke ihnen für ihre Auf­merk­sam­keit und emp­fehle mich.

Spurensuche

Vor gut drei Mona­ten habe ich hier den Sirius Blei­stift Nr. 2 der Leip­zi­ger Pia­no­for­te­fa­brik gezeigt und gefragt: Wie kommt ein Blei­stift in das Lie­fer­pro­gramm eines Klavierherstellers?

Sirius Bleistift Nr. 2

Der Besuch in der Ludwig-Hupfeld-Straße im Leip­zi­ger Stadt­teil Böhlitz-Ehrenberg1, dem Stand­ort der ehe­ma­li­gen Pia­no­for­te­fa­brik, war ernüch­ternd, bot er doch nur den Anblick eines gro­ßen, ver­nach­läs­sig­ten Gebäu­des, an dem ein paar neue Beschrif­tun­gen ange­bracht wur­den (dar­un­ter auch die von Rönisch, dem neuen Eigen­tü­mer des Bestands der Leip­zi­ger Piano-Union). Die Reste des alten Fir­men­na­mens am Turm, die wohl noch bis vor eini­ger Zeit zu sehen waren, müs­sen sich in der Zwi­schen­zeit gelöst haben oder ver­bar­gen sich hin­ter dem grü­nen Netz, das den Turm teil­weise umspannte.

Leipzig, ehemalige Pianofortefabrik

Süd­fas­sade der ehe­ma­li­gen Leip­zi­ger Pia­no­for­te­fa­brik im Stadt­teil Böhlitz-Ehrenberg (kmz-Datei)

Eine Anfrage beim Staats­ar­chiv Leip­zig, Teil des säch­si­schen Staats­ar­chivs, das auch online über die ehe­ma­lige VEB Deut­sche Piano-Union Leip­zig im Stadt­teil Böhlitz-Ehrenberg infor­miert, lie­ferte jedoch einige inter­es­sante Details zur dor­ti­gen Bleistiftproduktion.

Spurensuche

Die älteste mir vor­lie­gende Akten­no­tiz stammt vom 2. April 1949. Diese führte einen Pos­ten von 5 Ton­nen Natur­gra­phit einer Firma Bin­der auf, der im Falle sei­ner noch zu bestim­men­den Eig­nung für die Blei­stift­her­stel­lung frei­ge­ge­ben wer­den sollte.

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Eine andere Notiz infor­mierte am 1. Okto­ber 1949 über die Ein­rich­tung der Kos­ten­stelle Nr. 354 für die Blei­stift­fa­bri­ka­tion. Um diese Zeit herum muss man auch schon mit der Pro­duk­tion begon­nen haben, denn eine Mit­tei­lung an die Betriebs­lei­tung vom 2. Dezem­ber 1949 erwähnte Pro­bleme beim Zie­hen der Minen­masse: Bei den durch die nächt­li­che Abküh­lung ungleich­mä­ßi­gen Raum­tem­pe­ra­tu­ren war sie brü­chig, in den Mit­tags­stun­den jedoch ein­wand­frei zu bearbeiten.

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Ein frü­her Hin­weis auf das ver­wen­dete Holz fin­det sich in einer Anwei­sung vom 14. Februar 1950, die zur Ver­mei­dung von unnö­ti­gem Trans­port und Ver­schnitt des ange­lie­fer­ten Erlen­hol­zes zum sofor­ti­gen Aus­sor­tie­ren der unge­eig­ne­ten Boh­len auf­for­derte. In einer Pro­duk­ti­ons­be­spre­chung am sel­ben Tag beklagte man den gro­ßen Ver­schnitt die­ses Erlen­hol­zes, da die­ses gerade für die Blei­stift­fer­ti­gung sehr schlecht geeig­net war.

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Ein Schrei­ben vom 22. Februar 1950 teilte einem mir unbe­kann­ten Emp­fän­ger mit: „Auf Ver­an­las­sung der dama­li­gen DWK haben wir in unse­rem Betrieb eine Fer­ti­gung von Blei-, Kopier- und Bunt­stif­ten ein­ge­rich­tet, die dazu die­nen soll, die Ver­sor­gung von Wirt­schaft und Bevöl­ke­rung der sowje­ti­schen Besat­zungs­zone Deutsch­lands in die­sen Arti­keln sicher­zu­stel­len.“2 Dem Brief als Mus­ter bei­gefügt war ein „LPF-Bleistift, Härte 2, rund, mit run­der Mine, zum Her­stel­ler­ab­ga­be­preis von DM 0,18 das Stück“, der „natur­far­big und geschlif­fen ohne Auf­schrift“ gelie­fert wer­den konnte. Dar­über hin­aus wur­den far­bige, polierte Stifte mit Auf­schrift ange­kün­digt, für die man bereits in weni­gen Mona­ten den dafür not­wen­di­gen Fer­ti­gungs­stand zu haben gedachte. – Damit ist belegt, dass die Blei­stift­her­stel­lung in der Leip­zi­ger Pia­no­for­te­fa­brik lange vor der Kon­sum­gü­ter­pro­duk­tion der 1970er und 1980er Jahre begann.

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In einer Akten­no­tiz vom 7. Juni 1950 wurde um geeig­nete Maß­nah­men ange­sichts des knap­pen Vor­rats an Ceylon-Graphit gebe­ten, da die letzte Lie­fe­rung nicht „mus­ter­ge­treu aus­ge­führt“ wurde. Eine Bespre­chung am dar­auf­fol­gen­den Tag erwähnte die geplante Prü­fung rus­si­schen Gra­phits auf ihre Ver­wend­bar­keit für die Blei­stift­pro­duk­tion; es bestand Aus­sicht, die­sen im Rah­men des Han­dels­ab­kom­mens mit der UdSSR für eine grö­ßere Menge von in der DDR nicht benö­tig­tem Tal­kum zu bekom­men. Ein Anwe­sen­der wies auf die ihm vor­lie­gende Foto­ko­pie eines Schrei­bens der Firma A. W. Faber an die Kropf­mühle hin, in dem A. W. Faber mit­teilt, „dass die von dort bezo­ge­nen Gra­phite (bay­ri­sche) sehr gut wären und dass die Firma Faber in der Lage ist, aus­schließ­lich aus die­sem Gra­phit Blei­stift­mi­nen her­zu­stel­len, so dass sie auf die Ein­fuhr von Ceylon-Graphit ver­zich­ten kann.“ Die direkte Ein­fuhr von Ceylon-Graphit lohnte sich nicht, und der Import über Eng­land schei­terte daran, dass die Bank von Eng­land den für die Bezah­lung bestimm­ten Betrag nicht frei­gab. Die Lösung die­ses Pro­blems sah man schließ­lich darin, dass 1,5 t Ceylon- und 1 t Korea-Graphit vom west­deut­schen Spe­di­teur des Händ­lers in Eng­land über­nom­men und über den west­deut­schen Gra­phit­lie­fe­ran­ten der FEMA nach Leip­zig gelie­fert wer­den soll­ten. Der aktu­elle Graphit-Engpass schien aller­dings über­wun­den, da man noch 1,8 t Flo­cken­gra­phit in Aus­sicht hatte und die­sen nur noch feinst­mah­len las­sen musste. (Anm.: Die VVB FEMA war die 1948 gebil­dete und 1952 auf­ge­löste Ver­ei­ni­gung Volks­ei­ge­ner Betriebe der Indus­trie für feu­er­feste Materialien.)

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Eine Über­sicht vom 20. Juni 1950 nannte Stück­zah­len der Bleistift-Produktion für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 1950: 794.000 geschlif­fen, 700.848 lackiert, 55.440 lackiert II. Wahl und 1.550.288 insgesamt.

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Wie eine wei­tere Akten­no­tiz am 23. Juni 1950 fest­hielt, hat man ver­sucht, aus den vor­han­de­nen Roh­ma­te­ria­lien Blei­stift­mi­nen zu fer­ti­gen, die dem „Mars Lumo­graph“ von J.S. STAEDTLER mög­lichst ähn­lich kom­men, und alle Maß­nah­men dar­auf abge­stellt. Den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Stein­gut­ton sah man als Min­de­rung des Pro­dukts im Ver­hält­nis zur STAEDTLER-Mine und kon­zen­trierte sich daher auf den von STAEDTLER ver­wen­de­ten Gra­phit, einer Mischung aus feinst­ge­mah­le­nem makro-kristallinem Ceylon-Graphit und eines amor­phen Gra­phits, wie ihn bei­spiels­weise Mexiko lie­ferte. Man wusste, dass baye­ri­scher Gra­phit zur Her­stel­lung von Blei­stift­mi­nen ver­wen­det wird, und kannte den Qua­li­täts­ruf der Gra­phit­werke Kropf­mühl AG. Ob jedoch für die „Castell“-Bleistifte der Firma A. W. Faber tat­säch­lich nur baye­ri­scher Gra­phit benutzt wurde, konnte man nicht mit Bestimmt­heit sagen.

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Die Ver­su­che, aus­schließ­lich baye­ri­schen Gra­phit zur Minen­her­stel­lung zu nut­zen, began­nen laut die­ser Akten­no­tiz bereits sehr früh, hat­ten jedoch nicht den gewünsch­ten Erfolg (zur Demons­tra­tion lagen Minen die­ses Typs der Notiz bei). Man erwog, statt der gefor­der­ten STAEDTLER-Mine auf eine aus­zu­wei­chen, die dem „Castell“-Stift der Firma A. W. Faber näher­kommt und somit haupt­säch­lich die Ver­wen­dung von baye­ri­schen, mikro-kristallinen Gra­phi­ten erlaubt. Sollte eine tief­schwarze Mine gefor­dert wer­den, so plante man die Ver­wen­dung eines böh­mi­schen, amor­phen Gra­phits anstelle des mexi­ka­ni­schen. – Mit zwei wei­te­ren Noti­zen aus den Mona­ten Juni und Juli 1950, die sich mit der Aus­wer­tung von Zeit­auf­nah­men des Arbeits­gangs „Brett­chen schnei­den“ in der Abtei­lung Blei­stift­um­hül­lung beschäf­tig­ten sowie einen Prä­mi­en­zu­schlag ankün­dig­ten, enden die mir vor­lie­gen­den Unterlagen.

Auch wenn diese Details keine ver­läss­li­chen Rück­schlüsse auf das Alter oder das Mate­rial des Sirius Blei­stift Nr. 2 erlau­ben, so bie­ten sie doch einen klei­nen Ein­blick in seine Vor­ge­schichte und die Blei­stift­pro­duk­tion an die­sem Ort.

  1. Genauer: im jet­zi­gen Leip­zi­ger Stadt­teil, denn Böhlitz-Ehrenberg wurde erst 1999 ein­ge­mein­det.
  2. Die DWK (Deut­sche Wirt­schafts­kom­mis­sion) war die zen­trale deut­sche Ver­wal­tungs­in­stanz in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zone vom 4.6.1947 bis zum 7.10.1949.
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