Spurensuche

Vor gut drei Mona­ten habe ich hier den Sirius Blei­stift Nr. 2 der Leip­zi­ger Pia­no­for­te­fa­brik gezeigt und gefragt: Wie kommt ein Blei­stift in das Lie­fer­pro­gramm eines Klavierherstellers?

Sirius Bleistift Nr. 2

Der Besuch in der Ludwig-Hupfeld-Straße im Leip­zi­ger Stadt­teil Böhlitz-Ehrenberg1, dem Stand­ort der ehe­ma­li­gen Pia­no­for­te­fa­brik, war ernüch­ternd, bot er doch nur den Anblick eines gro­ßen, ver­nach­läs­sig­ten Gebäu­des, an dem ein paar neue Beschrif­tun­gen ange­bracht wur­den (dar­un­ter auch die von Rönisch, dem neuen Eigen­tü­mer des Bestands der Leip­zi­ger Piano-Union). Die Reste des alten Fir­men­na­mens am Turm, die wohl noch bis vor eini­ger Zeit zu sehen waren, müs­sen sich in der Zwi­schen­zeit gelöst haben oder ver­bar­gen sich hin­ter dem grü­nen Netz, das den Turm teil­weise umspannte.

Leipzig, ehemalige Pianofortefabrik

Süd­fas­sade der ehe­ma­li­gen Leip­zi­ger Pia­no­for­te­fa­brik im Stadt­teil Böhlitz-Ehrenberg (kmz-Datei)

Eine Anfrage beim Staats­ar­chiv Leip­zig, Teil des säch­si­schen Staats­ar­chivs, das auch online über die ehe­ma­lige VEB Deut­sche Piano-Union Leip­zig im Stadt­teil Böhlitz-Ehrenberg infor­miert, lie­ferte jedoch einige inter­es­sante Details zur dor­ti­gen Bleistiftproduktion.

Spurensuche

Die älteste mir vor­lie­gende Akten­no­tiz stammt vom 2. April 1949. Diese führte einen Pos­ten von 5 Ton­nen Natur­gra­phit einer Firma Bin­der auf, der im Falle sei­ner noch zu bestim­men­den Eig­nung für die Blei­stift­her­stel­lung frei­ge­ge­ben wer­den sollte.

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Eine andere Notiz infor­mierte am 1. Okto­ber 1949 über die Ein­rich­tung der Kos­ten­stelle Nr. 354 für die Blei­stift­fa­bri­ka­tion. Um diese Zeit herum muss man auch schon mit der Pro­duk­tion begon­nen haben, denn eine Mit­tei­lung an die Betriebs­lei­tung vom 2. Dezem­ber 1949 erwähnte Pro­bleme beim Zie­hen der Minen­masse: Bei den durch die nächt­li­che Abküh­lung ungleich­mä­ßi­gen Raum­tem­pe­ra­tu­ren war sie brü­chig, in den Mit­tags­stun­den jedoch ein­wand­frei zu bearbeiten.

Spurensuche

Ein frü­her Hin­weis auf das ver­wen­dete Holz fin­det sich in einer Anwei­sung vom 14. Februar 1950, die zur Ver­mei­dung von unnö­ti­gem Trans­port und Ver­schnitt des ange­lie­fer­ten Erlen­hol­zes zum sofor­ti­gen Aus­sor­tie­ren der unge­eig­ne­ten Boh­len auf­for­derte. In einer Pro­duk­ti­ons­be­spre­chung am sel­ben Tag beklagte man den gro­ßen Ver­schnitt die­ses Erlen­hol­zes, da die­ses gerade für die Blei­stift­fer­ti­gung sehr schlecht geeig­net war.

Spurensuche

Ein Schrei­ben vom 22. Februar 1950 teilte einem mir unbe­kann­ten Emp­fän­ger mit: „Auf Ver­an­las­sung der dama­li­gen DWK haben wir in unse­rem Betrieb eine Fer­ti­gung von Blei-, Kopier- und Bunt­stif­ten ein­ge­rich­tet, die dazu die­nen soll, die Ver­sor­gung von Wirt­schaft und Bevöl­ke­rung der sowje­ti­schen Besat­zungs­zone Deutsch­lands in die­sen Arti­keln sicher­zu­stel­len.“2 Dem Brief als Mus­ter bei­gefügt war ein „LPF-Bleistift, Härte 2, rund, mit run­der Mine, zum Her­stel­ler­ab­ga­be­preis von DM 0,18 das Stück“, der „natur­far­big und geschlif­fen ohne Auf­schrift“ gelie­fert wer­den konnte. Dar­über hin­aus wur­den far­bige, polierte Stifte mit Auf­schrift ange­kün­digt, für die man bereits in weni­gen Mona­ten den dafür not­wen­di­gen Fer­ti­gungs­stand zu haben gedachte. – Damit ist belegt, dass die Blei­stift­her­stel­lung in der Leip­zi­ger Pia­no­for­te­fa­brik lange vor der Kon­sum­gü­ter­pro­duk­tion der 1970er und 1980er Jahre begann.

Spurensuche

In einer Akten­no­tiz vom 7. Juni 1950 wurde um geeig­nete Maß­nah­men ange­sichts des knap­pen Vor­rats an Ceylon-Graphit gebe­ten, da die letzte Lie­fe­rung nicht „mus­ter­ge­treu aus­ge­führt“ wurde. Eine Bespre­chung am dar­auf­fol­gen­den Tag erwähnte die geplante Prü­fung rus­si­schen Gra­phits auf ihre Ver­wend­bar­keit für die Blei­stift­pro­duk­tion; es bestand Aus­sicht, die­sen im Rah­men des Han­dels­ab­kom­mens mit der UdSSR für eine grö­ßere Menge von in der DDR nicht benö­tig­tem Tal­kum zu bekom­men. Ein Anwe­sen­der wies auf die ihm vor­lie­gende Foto­ko­pie eines Schrei­bens der Firma A. W. Faber an die Kropf­mühle hin, in dem A. W. Faber mit­teilt, „dass die von dort bezo­ge­nen Gra­phite (bay­ri­sche) sehr gut wären und dass die Firma Faber in der Lage ist, aus­schließ­lich aus die­sem Gra­phit Blei­stift­mi­nen her­zu­stel­len, so dass sie auf die Ein­fuhr von Ceylon-Graphit ver­zich­ten kann.“ Die direkte Ein­fuhr von Ceylon-Graphit lohnte sich nicht, und der Import über Eng­land schei­terte daran, dass die Bank von Eng­land den für die Bezah­lung bestimm­ten Betrag nicht frei­gab. Die Lösung die­ses Pro­blems sah man schließ­lich darin, dass 1,5 t Ceylon- und 1 t Korea-Graphit vom west­deut­schen Spe­di­teur des Händ­lers in Eng­land über­nom­men und über den west­deut­schen Gra­phit­lie­fe­ran­ten der FEMA nach Leip­zig gelie­fert wer­den soll­ten. Der aktu­elle Graphit-Engpass schien aller­dings über­wun­den, da man noch 1,8 t Flo­cken­gra­phit in Aus­sicht hatte und die­sen nur noch feinst­mah­len las­sen musste. (Anm.: Die VVB FEMA war die 1948 gebil­dete und 1952 auf­ge­löste Ver­ei­ni­gung Volks­ei­ge­ner Betriebe der Indus­trie für feu­er­feste Materialien.)

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Eine Über­sicht vom 20. Juni 1950 nannte Stück­zah­len der Bleistift-Produktion für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 1950: 794.000 geschlif­fen, 700.848 lackiert, 55.440 lackiert II. Wahl und 1.550.288 insgesamt.

Spurensuche

Wie eine wei­tere Akten­no­tiz am 23. Juni 1950 fest­hielt, hat man ver­sucht, aus den vor­han­de­nen Roh­ma­te­ria­lien Blei­stift­mi­nen zu fer­ti­gen, die dem „Mars Lumo­graph“ von J.S. STAEDTLER mög­lichst ähn­lich kom­men, und alle Maß­nah­men dar­auf abge­stellt. Den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Stein­gut­ton sah man als Min­de­rung des Pro­dukts im Ver­hält­nis zur STAEDTLER-Mine und kon­zen­trierte sich daher auf den von STAEDTLER ver­wen­de­ten Gra­phit, einer Mischung aus feinst­ge­mah­le­nem makro-kristallinem Ceylon-Graphit und eines amor­phen Gra­phits, wie ihn bei­spiels­weise Mexiko lie­ferte. Man wusste, dass baye­ri­scher Gra­phit zur Her­stel­lung von Blei­stift­mi­nen ver­wen­det wird, und kannte den Qua­li­täts­ruf der Gra­phit­werke Kropf­mühl AG. Ob jedoch für die „Castell“-Bleistifte der Firma A. W. Faber tat­säch­lich nur baye­ri­scher Gra­phit benutzt wurde, konnte man nicht mit Bestimmt­heit sagen.

Spurensuche

Die Ver­su­che, aus­schließ­lich baye­ri­schen Gra­phit zur Minen­her­stel­lung zu nut­zen, began­nen laut die­ser Akten­no­tiz bereits sehr früh, hat­ten jedoch nicht den gewünsch­ten Erfolg (zur Demons­tra­tion lagen Minen die­ses Typs der Notiz bei). Man erwog, statt der gefor­der­ten STAEDTLER-Mine auf eine aus­zu­wei­chen, die dem „Castell“-Stift der Firma A. W. Faber näher­kommt und somit haupt­säch­lich die Ver­wen­dung von baye­ri­schen, mikro-kristallinen Gra­phi­ten erlaubt. Sollte eine tief­schwarze Mine gefor­dert wer­den, so plante man die Ver­wen­dung eines böh­mi­schen, amor­phen Gra­phits anstelle des mexi­ka­ni­schen. – Mit zwei wei­te­ren Noti­zen aus den Mona­ten Juni und Juli 1950, die sich mit der Aus­wer­tung von Zeit­auf­nah­men des Arbeits­gangs „Brett­chen schnei­den“ in der Abtei­lung Blei­stift­um­hül­lung beschäf­tig­ten sowie einen Prä­mi­en­zu­schlag ankün­dig­ten, enden die mir vor­lie­gen­den Unterlagen.

Auch wenn diese Details keine ver­läss­li­chen Rück­schlüsse auf das Alter oder das Mate­rial des Sirius Blei­stift Nr. 2 erlau­ben, so bie­ten sie doch einen klei­nen Ein­blick in seine Vor­ge­schichte und die Blei­stift­pro­duk­tion an die­sem Ort.

  1. Genauer: im jet­zi­gen Leip­zi­ger Stadt­teil, denn Böhlitz-Ehrenberg wurde erst 1999 ein­ge­mein­det.
  2. Die DWK (Deut­sche Wirt­schafts­kom­mis­sion) war die zen­trale deut­sche Ver­wal­tungs­in­stanz in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zone vom 4.6.1947 bis zum 7.10.1949.

10 Kommentare zu „Spurensuche“

  1. Nur ein Kom­men­tar ist eigent­lich nötig: WOW!
    Vie­len Dank für diese tief­grün­dige und infor­ma­tive Ein­füh­rung. Ich hatte keine Ahnung, dass die Lie­fe­rung der Gra­phit ein sol­che „diplo­ma­ti­sches Pro­blem“ sein konnte.

  2. Hen­rik und Ste­phen, danke für Eure Kommentare.

    Auf­grund ihrer wirt­schaft­li­chen Eigen­hei­ten (um’s mal vor­sich­tig aus­zu­drü­cken) und der damit ver­bun­de­nen, zum Teil erheb­li­chen Pro­bleme musste die ehe­ma­lige DDR zuwei­len sehr große Klimm­züge machen, um an für uns all­täg­li­che und leicht zu beschaf­fende Dinge zu gelangen.

  3. Great story, thank you for adding the pho­to­graph. It made me aware of your very inte­res­t­ing rese­arch (2009) on the ori­gin of pen­cils from the fac­tory in Leip­zig in DDR times. Fasci­na­ting in every detail.

  4. I have hoped to see that buil­ding wit­hout the green net at the top but it looks like it will stay there because of safety reasons. On that occa­sion I have also noti­ced that I haven’t shown that buil­ding in my blog post, and I don’t know why I have missed that … Any­way, I often enjoy loo­king at a topic again a few years later!

  5. Sehr gute Recher­che, gibt es auch Erkennt­nisse zum eben­falls unter der Marke LPF Leip­zig gefer­tig­ten Blei­stift mit der Bezeich­nung Turm Nr. 2, so einen habe ich bei mir im Haus gefun­den, schreibt wun­der­bar, wurde aber jetzt von mir „sicher­ge­stellt“. :-)

    LG
    aus Reichenbach

  6. Danke, auch für den Hin­weis auf den „Turm“-Bleistift, von dem ich noch nicht gehört habe und zu dem ich daher lei­der nichts sagen kann. Gut, dass Sie das his­to­ri­sche Stück sicher­stel­len konnten!

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