Gedanken zu Graphit

Johann Wolf­gang Goe­the (1749–1832), der immer Notiz­buch und Blei­stift mit sich führte, schrieb in „Dich­tung und Wahr­heit“ (1821–1831):

Ich war so gewohnt, mir ein Lied­chen vor­zu­sa­gen, ohne es wie­der zusam­men fin­den zu kön­nen, daß ich eini­ge­mal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer lie­gen­den Bogen zurecht zu rücken, son­dern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rüh­ren, in der Dia­go­nale her­un­ter­schrieb. In eben die­sem Sinne griff ich weit lie­ber zu dem Blei­stift, wel­cher wil­li­ger die Züge her­gab: denn es war mir eini­ge­mal begeg­net, daß das Schnar­ren und Sprit­zen der Feder mich aus mei­nem nacht­wand­le­ri­schen Dich­ten auf­weckte, mich zer­streute und ein klei­nes Pro­dukt in der Geburt erstickte.

Die Feder gibt es heute nicht mehr, doch ihr läs­ti­ges „Schnar­ren und Sprit­zen“ hat in den Wid­rig­kei­ten der Text­ver­ar­bei­tung ein moder­nes Pen­dant: Uner­wünschte Auto­ma­tis­men und andere unge­be­tene Hel­fer drän­geln sich rabiat zwi­schen Papier und Gedan­ken, und die Not­wen­dig­keit, häu­fig aus einer nicht sel­ten unüber­schau­ba­ren Viel­falt an Optio­nen wäh­len zu müs­sen, zer­stü­ckelt die Aufmerksamkeit.

Zahl­rei­che Ablen­kun­gen nicht nur in Form text­ge­stal­te­ri­scher Mög­lich­kei­ten, die jeder­zeit ver­füg­bar und nie voll­stän­dig vom eigent­li­chen Inhalt getrennt sind, stel­len die Dis­zi­plin der Schrei­ben­den arg auf die Probe. Hinzu kommt die tech­nisch per­fekte Reprä­sen­ta­tion selbst roher Texte und Bil­der, die bereits am Bild­schirm für den Ein­druck des Fer­ti­gen sorgt und auf dem Papier beim Ein­satz des kor­ri­gie­ren­den Rot­stifts hemmt.

Der ange­nehm zurück­hal­tende Blei­stift ist ganz bestimmt keine Alter­na­tive zur digi­ta­len Feder, aber frei von den oben auf­ge­führ­ten Stö­run­gen, Zer­streu­un­gen und Täu­schun­gen und damit für mich eine wohl­tu­ende Abwechs­lung und Ergän­zung. Die Beschrän­kun­gen die­ses schlich­ten Schreib­werk­zeugs emp­finde ich nicht als sol­che, son­dern als befrei­end und ziel­füh­rend, sor­gen sie doch dafür, dass es kaum an unse­ren Gedan­ken arbei­tet1. Und so greife ich immer wie­der sehr gern zum Blei­stift, der in den mehr als vier­hun­dert Jah­ren sei­ner Geschichte schon einige Auf­zeich­nungs­sys­teme hat kom­men und gehen sehen.

Schwan-STABILO Opera 285

  1. Bereits Fried­rich Nietz­sche wusste: „Die Werk­zeuge arbei­ten mit an unse­ren Gedan­ken“.

17 Kommentare zu „Gedanken zu Graphit“

  1. Pingback: Flüchtiges festgehalten - zonebattler´s homezone 2.0

  2. Sehr schön, bravo! In der Tat drän­geln sich gerade die angeb­lich so benut­zer­freund­li­chen Werk­zeuge gern in das Bewußt­sein des Benut­zers und stö­ren die­sen im krea­ti­ven Pro­zeß. Mein vir­tu­el­les Lieb­lings­werk­zeug hat wit­zi­ger­weise man­ches mit dem gezeig­ten Blei­stift gemein, den Namen (Opera), die Erken­nungs­farbe (rot) und die Stabil(o)ität! ;-)

  3. …und wenn man mal kei­nen Blei­stift hat, wirkt ein dum­mer Text­edi­tor wie note­pad unter Win­dows wahre Wun­der. Das ein­zige Mit­tel der Text­glie­de­rung ist dort der Umbruch, und man muss sich auf ein­mal um nichts mehr küm­mern als den Inhalt. Wenn der fer­tig ist, gehts dann mit für den Fein­schliff c&p in die eigent­li­che Textverarbeitung.

    Tobi

  4. zone­batt­ler: Danke! :-) Ja, das vor­der­grün­dig Benut­zer­freund­li­che hat manch­mal auch etwas Bevor­mun­den­des, und dies ist dem krea­ti­ven Selbst­den­ker natür­lich ein Graus. – Die Design-Parallelen sind in der Tat wit­zig. Der Name „STABILO“ stammt (wenn ich mich rich­tig erin­nere) auch von „sta­bil“, was damals der von Schwan geschaf­fe­nen Mine des Dünn­kern­farb­stifts galt.

    Tobi: Das ist sehr rich­tig – ein ein­fa­cher Edi­tor wie Note­pad, Q10 oder (mein Favo­rit) meta­pad erspart viel Ver­druss. Doch auch die­ser erfor­dert die Inter­ak­tion des Benut­zers mit dem dar­un­ter­lie­gen­den Getriebe, und sei es auch nur für die Ver­wal­tung der Arbeit.

    Der Blei­stift hat den zahl­rei­chen Edi­to­ren oben­drein eini­ges vor­aus: Er bie­tet die Mög­lich­keit, im Text schnelle Skiz­zen oder am Rand senk­rechte Anmer­kun­gen unter­zu­brin­gen, und beim Ver­zicht auf den Radie­rer, d. h. beim Durch­strei­chen alter Text­teile blei­ben frü­here Ver­sio­nen erhal­ten, wäh­rend sie im Edi­tor in der Regel spur­los ver­schwin­den. Nütz­lich ist zuwei­len auch die Unab­hän­gig­keit vom Stromnetz.

    Aber ich will es nicht über­trei­ben oder gar als Lud­dit auf­tre­ten (ich bin allen­falls ein laten­ter) – für mich macht’s die ver­nünf­tige Mischung ange­pass­ter Werkzeuge.

  5. Ahh – und ein klei­nes Ein­blick in deine modus ope­randi mit dei­nem Blog bekom­men wir auch.
    Es seiht aus wie es Biss­chen mehr dazu ist als nur Text und Fotos in einer Scha­blone ein­zu­pas­send. Gut für das Leser­schaft zu wis­sen, dass der alte Redak­teur für uns hart arbei­ten muss. :-)
    mvG.
    Henrik
    Ps. Nr. 2½ = HB?

  6. Ja, das war in der Tat auch ein Blick hin­ter die Kulis­sen, denn nicht wenige Bei­träge die­ses Web­logs begin­nen mit Papier und Blei­stift und brau­chen manch­mal eine ganze Weile, bis sie in den Com­pu­ter finden.

    Die Beschrif­tung des Opera ist wirk­lich etwas irre­füh­rend, was aber wohl damit zusam­men­hän­gen dürfte, dass es weder für die Här­te­grade noch für die Bezeich­nun­gen einen Stan­dard gibt, der sich auch als ein sol­cher bezeich­nen ließe.

  7. Noch eine kleine lite­ra­ri­sche Lie­bes­er­klä­rung an den Bleistift:

    „Ein Blei­stift (: wenn man den selbst her­stel­len sollte! Stellt Euch vor, die Mensch­heit ist weg: und Ihr soll­tet einen Blei­stift machen!! – Zauberei!)“

    (Arno Schmidt, Brand’s Haide. Rowohlt 1951, S. 121)

  8. Viel­leicht machen Sie mal einen Bei­trag über Sampson Mordan, den Her­stel­ler von Goe­thes mecha­ni­cal pencil!

  9. Das ist sehr unwahr­schein­lich, denn Sampson Mord­ans Blei­stift hat mich nie ange­spro­chen. – Woher haben Sie die Infor­ma­tion, dass Goe­the den Blei­stift von Sampson Mordan benutzt hat?

  10. https://www.froelichundkaufmann.de/merkmail/goethes-druckbleistift.html

    http://weimarpedia.de/index.php?id=1&tx_wpj_wpj%5Barticle%5D=6600&tx_wpj_wpj%5Baction%5D=show&tx_wpj_wpj%5Bcontroller%5D=Article&cHash=b68e124e592449453996dbaf41147b43

    Offen­bar war das Goe­thes Druck­blei­stift. Genaue­res konnte ich (auf die Schnelle) nicht aus­fin­dig machen.Wäre aber sicher inter­es­sant … ob einem der (damals sicher inno­va­tive) Stift gefällt oder nicht.

  11. Hier noch ein Hinweis:
    https://www.musikundmedien.hu-berlin.de/de/medienwissenschaft/medientheorien/Schriften-zur-medienarchaeologie/aufsaetze_vortragsskripte/pdfs/weimarer-schriften.pdf

    Offen­bar hatte Goe­the wirk­lich einen Mord­an­schen Blei­stift in sei­nem Eigen­tum. Der Sampson Mordan war wohl auch kein Her­stel­ler im Sinne der heu­ti­gen Groß­her­stel­ler, er war ein Sil­ber­schmied und hat die teu­ren sil­ber­nen Schreib­ge­räte wohl als Ein­zel­stü­cke oder in manu­fak­tur­mä­ßi­ger Her­stel­lung ange­fer­tigt. Offen­bar waren diese Stü­cke auch wirk­lich brauchbar.

  12. A pity these copies of the Sampson Mordan by archae­form GmbH are focus­sed on the outer shell only. It seems the pro­pel­ling mecha­nism is much more modern with even a pla­s­tic tube. Thus it beco­mes more fan­tasy than rea­lity this fee­ling of being rela­ted to Goethe’s inspi­ra­tion, drive and per­fec­tion­ism. It is good to know the Goethe’s grand­fa­ther lived in a vil­lage I feel very much at home. That way I can feel the con­nec­tion in ano­ther way :), wit­hout the purchase.

  13. Thank you for these details! It’s indeed a pity that these pen­cils aren’t up to what many users would expect. – I’m happy to hear about your spe­cial connection!

  14. Noch ein schö­nes Zitat zum Thema Bleistift:

    „Ever­yone has their own idea of hell. For me this would be a place where there are no pencils.“

    Sir Nor­man Foster

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